"Geh mit uns nach Bremen! Du verstehst dich doch auf
die Nachtmusik, da kannst du Stadtmusikant werden." Eigentlich sind die
vier Musiker nie in Bremen angekommen und doch berührt uns dieses Märchen
seltsam und hoffnungsvoll mit seiner Botschaft: Du kannst dein Leben ändern!
Und eigenartigerweise war es ein anderer Bremer, nämlich Henning Scherf, der
uns diese Botschaft hier und jetzt neu schrieb: Es gibt ein Leben vor dem Tod.
Herzlich Willkommen in einer Alten-WG.
Das Märchen von den
Bremer Stadtmusikanten erzählt von den vier Tieren Hahn, Katze, Hund und Esel,
die ihren Besitzern infolge ihres Alters nicht mehr nützlich sind und daher
getötet werden sollen. Es gelingt dem ersten Tier, dem Esel, zu entkommen, er
trifft nachfolgend auf die drei weiteren Tiere, die ein ähnliches Schicksal
berichten. Alle folgen dem Vorschlag des Esels, in Bremen Stadtmusikanten zu
werden, und sie brechen nach Bremen auf. Da sie die Stadt nicht an einem Tag erreichen
können, müssen sie im Wald übernachten, wo sie ein Haus entdecken, das offensichtlich
eine Unterkunft von Dieben und Räubern
ist. Sie erschrecken die Räuber, vertreiben sie mit gespenstischem Geschrei aus
dem Haus und übernehmen es als Nachtlager. Ein Räuber, der später in der Nacht
erkundet, ob man das Haus wieder betreten kann, wird von den Tieren nochmals
und damit endgültig verjagt. Die Tiere wohnen weiterhin in dem Haus.
Was ist der Sinn dieses
Märchens? Die vier Tiere müssen einen neuen Lebensabschnitt beginnen, was uns
Menschen im realen Leben auch häufig
widerfährt. Sie müssen lernen mit der neuen Situation auszukommen und das Beste
draus zu machen. Dazu wird ein Modell vorgeschlagen, das darin besteht, dass
sich vier einzelne, schwache Tiere zusammenschließen und eine Gemeinschaft
bilden, ein neues Ganzes(!) ergeben, mit dem sie eine Chance haben. Das Märchen
setzt den Wahlspruch: Gemeinsam sind wir stark, aktiv und erfolgreich um.
Aber
das Märchen zeigt noch ein anderes Motiv. Es sind Alte (Tiere), die von ihrer
Umwelt ausgegliedert werden, sie sind zu nichts mehr nütze, nach Meinung der anderen,
sie leisten nichts mehr, zumindest das, was bisher von Ihnen gefordert war. Sie
haben aber noch andere, unentdeckte Fähigkeiten, sie können zwar keinen
Marathon mehr in 2,5 Stunden laufen, aber … sie können auf einem anderen
Instrument spielen.
Offensichtlich
sind die Vorstellungen von der Stadt Bremen so attraktiv und fortschrittlich,
dass es ein anderer Bremer ist, der das Märchen weiter erzählt, hören wir ihn
einfach an:
„Ich heiße Henning
Scherf und war einmal der Bürgermeister von Bremen. Seit 1988 lebe ich in einer
Hausgemeinschaft, die von Außenstehenden oft als »Alten-WG« bezeichnet wird.
Ganz falsch ist der Ausdruck nicht: Meine Frau und ich haben uns vor 20 Jahren
Freunde gesucht, mit denen wir gemeinsam alt werden wollten. Das war eine der
besten Entscheidungen meines Lebens.
Warum will ich nicht ins
Heim? Nun, so ganz allein bin ich mit diesem Wunsch nicht.
Wie wollen wir alt werden? Niemand hat mich in dieser Frage stärker geprägt als meine Großmutter. Sie lebte bis zum Schluss bei uns zu Hause und starb im Kreis ihrer Familie. Ich dachte damals: Das möchte ich für mich auch! Doch die Welt hat sich verändert. Meine Kinder sind längst fortgezogen, und ich weiß, dass es fast allen Menschen meines Alters ähnlich geht. Doch auch wenn die Großfamilie nicht mehr existiert - von ihrer Grundidee lasse ich mich nicht abbringen. Ich möchte auch mit 90 noch dort leben, wo ich mich zu Hause fühle. Wo ich mich zurechtfinde und eine Aufgabe habe. Wo Menschen sind, die ich mag. Wo man mich kennt. Alles andere ist in meinen Augen nur zweite Wahl. Es gibt heute eine ganze Reihe von Alternativen zum Leben im Heim. Eine davon ist meine Hausgemeinschaft. Man sucht sich eine Wahlfamilie, ein Netzwerk aus Menschen, die im besten Fall aus mehreren Generationen stammen. Wer alt ist, kann eine junge Familie entlasten, bei der die Großeltern vielleicht in einer anderen Stadt leben und im Alltag nicht helfen können. Jeder kann in einem solchen Netzwerk Aufgaben übernehmen. Wenn das gelingt, muss uns auch vor dem letzten, dem so genannten »vierten Alter« nicht Bange sein. Wer diese Hilfe organisiert? Ich erwarte diese Leistung nicht von der Politik. Sie muss von uns selbst kommen. Und sie entsteht nicht von heute auf morgen. Je früher man sich darum kümmert, desto größer sind die Chancen, dass dieses Netz uns auch trägt, wenn das Leben beschwerlicher wird.“*
Wie wollen wir alt werden? Niemand hat mich in dieser Frage stärker geprägt als meine Großmutter. Sie lebte bis zum Schluss bei uns zu Hause und starb im Kreis ihrer Familie. Ich dachte damals: Das möchte ich für mich auch! Doch die Welt hat sich verändert. Meine Kinder sind längst fortgezogen, und ich weiß, dass es fast allen Menschen meines Alters ähnlich geht. Doch auch wenn die Großfamilie nicht mehr existiert - von ihrer Grundidee lasse ich mich nicht abbringen. Ich möchte auch mit 90 noch dort leben, wo ich mich zu Hause fühle. Wo ich mich zurechtfinde und eine Aufgabe habe. Wo Menschen sind, die ich mag. Wo man mich kennt. Alles andere ist in meinen Augen nur zweite Wahl. Es gibt heute eine ganze Reihe von Alternativen zum Leben im Heim. Eine davon ist meine Hausgemeinschaft. Man sucht sich eine Wahlfamilie, ein Netzwerk aus Menschen, die im besten Fall aus mehreren Generationen stammen. Wer alt ist, kann eine junge Familie entlasten, bei der die Großeltern vielleicht in einer anderen Stadt leben und im Alltag nicht helfen können. Jeder kann in einem solchen Netzwerk Aufgaben übernehmen. Wenn das gelingt, muss uns auch vor dem letzten, dem so genannten »vierten Alter« nicht Bange sein. Wer diese Hilfe organisiert? Ich erwarte diese Leistung nicht von der Politik. Sie muss von uns selbst kommen. Und sie entsteht nicht von heute auf morgen. Je früher man sich darum kümmert, desto größer sind die Chancen, dass dieses Netz uns auch trägt, wenn das Leben beschwerlicher wird.“*
Unschwer zu erkennen
ist, dass es in diesem Artikel um den Problemkreis Leben und Wohnen im Alter geht. Henning Scherf und manche andere Menschen sehen eine Chance in einer
Wohngemeinschaft im Alter. Sie haben recht darin, dass sich der Mensch auch im Alter,
wie während seines ganzen Lebens, als Mensch in einer sozialen Umgebung
begreift. Wirklichkeit ist immer sozial bedingt, definiert oder konstruiert
(vergleiche dazu die Abhandlung von Berger, Luckmann: Die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit). Fiktion ist aber die immerwährende Beschwörung
der Großfamilie, die unter einem Dach lebenden Mehrgenerationenhaushalte. Nach
dem Mikrozensus 2005 lebten in Deutschland noch ein Prozent nach dem
klassischen Familienbild zusammen: Ein Haus mit Eltern, Kindern, Opa und Oma
sowie in seltenen Fällen auch Urgroßeltern!
So ist die Alten-WG ein
mögliches Modell, das aber nur wenige verwirklichen können. Man muß deshalb
endlich wieder die Wohnform positiv besetzen, die für viele alte Menschen die
Wirklichkeit bildet: das Altenheim. Der Begriff „Heim“ bedeutet von der Herkunft
nach der Ort, wo man sich niederlässt, er ist eng verwandt mit dem Begriff
Heimat. Das Altenheim als Zentrum für Lebensgestaltung im Alter ermöglicht ein
harmonisches Leben in einer definierten sozialen Welt, wo alle Möglichkeiten
der Welt außerhalb(?) gegeben sind, wo sich immer wieder mehrere Generationen
begegnen, wo man auch scheitern kann, wie im gewöhnlichen Alltag, wo man sich
aber auch verwirklichen kann, wie im gewöhnlichen Leben. Der Gruppendruck in
einer kleinen WG kann schlimmer sein als im Altenheim, der Mensch macht es, der
seine Umgebung bewusst gestaltet oder Sorge dafür trifft, dass sie bewußt
gestaltet wird und bleibt. Darin hat Henning Scherf recht, dass er auf den
Begriff des Netzwerkes aufmerksam macht und auf jenes bewusste Schaffen der
sozialen Welt. Der Soziologe Alfred Schütz hat dies in seiner wegweisenden Abhandlung:
Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt deutlich gemacht, wir erfahren uns als Mensch
nur im Wir und in einem gemeinsamen Handeln. Die Bremer Stadtmusikanten legten das
Stigma des gescheitert seins ab und schufen zusammen(!) eine neue Lebenswelt.
1982
war das Motto des Weltgesundheitsjahres: Nicht
nur dem Leben Jahre geben, sondern den Jahren Leben. Für die heutige
Ansicht einer Gerontologie ist es Aufgabe und Ziel, beginnend beim gesunden
alten Menschen, über den leicht erkrankten zum schwerkranken und schließlich
zum Pflegepatienten hin, die Tage und Jahre mit Leben zu füllen, immer
situationsbezogen in den Möglichkeiten, die die Individualität bietet. Das kann
sich im Altenheim genauso erfüllen wie in einer Wohngemeinschaft oder auch im
Umfeld der Familie, in großen Wohneinheiten wie in kleinen Strukturen.
„Von nun an getrauten
sich die Räuber nicht mehr in das Haus. Den vier Bremer Stadtmusikanten aber gefiel
es darin so gut, dass sie nicht wieder hinauswollten.“
Literaturhinweise:
Peter
Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit,1969
Alfred
Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932
Dieter
Kissel: Personale Geriatrie. Z.Allg.Med 61, 1175-1180 (1985)
*Henning
Scherf: Wohnen im Alter. Tagebucheintrag: www.diegesellschafter.de 09.02.2009
Dr.med. Dr.phil. Dieter Kissel beschäftigt sich seit
vielen Jahren als Arzt und Sozialwissenschaftler theoretisch und praktisch mit
der „Altersfrage“. Er ist niedergelassener Arzt in Öschelbronn mit dem
Tätigkeitsschwerpunkt Geriatrie und den Lesern durch mehrere Beiträge aus
zurückliegenden Heften bekannt.