20.03.2014

Die Bremer Stadtmusikanten oder Das Märchen(?) von der Alten-WG


"Geh mit uns nach Bremen! Du verstehst dich doch auf die Nachtmusik, da kannst du Stadtmusikant werden." Eigentlich sind die vier Musiker nie in Bremen angekommen und doch berührt uns dieses Märchen seltsam und hoffnungsvoll mit seiner Botschaft: Du kannst dein Leben ändern! Und eigenartigerweise war es ein anderer Bremer, nämlich Henning Scherf, der uns diese Botschaft hier und jetzt neu schrieb: Es gibt ein Leben vor dem Tod. Herzlich Willkommen in einer Alten-WG.


Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten erzählt von den vier Tieren Hahn, Katze, Hund und Esel, die ihren Besitzern infolge ihres Alters nicht mehr nützlich sind und daher getötet werden sollen. Es gelingt dem ersten Tier, dem Esel, zu entkommen, er trifft nachfolgend auf die drei weiteren Tiere, die ein ähnliches Schicksal berichten. Alle folgen dem Vorschlag des Esels, in Bremen Stadtmusikanten zu werden, und sie brechen nach Bremen auf. Da sie die Stadt nicht an einem Tag erreichen können, müssen sie im Wald übernachten, wo sie ein Haus entdecken, das offensichtlich eine Unterkunft von Dieben und Räubern ist. Sie erschrecken die Räuber, vertreiben sie mit gespenstischem Geschrei aus dem Haus und übernehmen es als Nachtlager. Ein Räuber, der später in der Nacht erkundet, ob man das Haus wieder betreten kann, wird von den Tieren nochmals und damit endgültig verjagt. Die Tiere wohnen weiterhin in dem Haus.



Was ist der Sinn dieses Märchens? Die vier Tiere müssen einen neuen Lebensabschnitt beginnen, was uns Menschen  im realen Leben auch häufig widerfährt. Sie müssen lernen mit der neuen Situation auszukommen und das Beste draus zu machen. Dazu wird ein Modell vorgeschlagen, das darin besteht, dass sich vier einzelne, schwache Tiere zusammenschließen und eine Gemeinschaft bilden, ein neues Ganzes(!) ergeben, mit dem sie eine Chance haben. Das Märchen setzt den Wahlspruch: Gemeinsam sind wir stark, aktiv und erfolgreich um.

Aber das Märchen zeigt noch ein anderes Motiv. Es sind Alte (Tiere), die von ihrer Umwelt ausgegliedert werden, sie sind zu nichts mehr nütze, nach Meinung der anderen, sie leisten nichts mehr, zumindest das, was bisher von Ihnen gefordert war. Sie haben aber noch andere, unentdeckte Fähigkeiten, sie können zwar keinen Marathon mehr in 2,5 Stunden laufen, aber … sie können auf einem anderen Instrument spielen.
Offensichtlich sind die Vorstellungen von der Stadt Bremen so attraktiv und fortschrittlich, dass es ein anderer Bremer ist, der das Märchen weiter erzählt, hören wir ihn einfach an:

„Ich heiße Henning Scherf und war einmal der Bürgermeister von Bremen. Seit 1988 lebe ich in einer Hausgemeinschaft, die von Außenstehenden oft als »Alten-WG« bezeichnet wird. Ganz falsch ist der Ausdruck nicht: Meine Frau und ich haben uns vor 20 Jahren Freunde gesucht, mit denen wir gemeinsam alt werden wollten. Das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens.

Warum will ich nicht ins Heim? Nun, so ganz allein bin ich mit diesem Wunsch nicht.
Wie wollen wir alt werden? Niemand hat mich in dieser Frage stärker geprägt als meine Großmutter. Sie lebte bis zum Schluss bei uns zu Hause und starb im Kreis ihrer Familie. Ich dachte damals: Das möchte ich für mich auch! Doch die Welt hat sich verändert. Meine Kinder sind längst fortgezogen, und ich weiß, dass es fast allen Menschen meines Alters ähnlich geht. Doch auch wenn die Großfamilie nicht mehr existiert - von ihrer Grundidee lasse ich mich nicht abbringen. Ich möchte auch mit 90 noch dort leben, wo ich mich zu Hause fühle. Wo ich mich zurechtfinde und eine Aufgabe habe. Wo Menschen sind, die ich mag. Wo man mich kennt. Alles andere ist in meinen Augen nur zweite Wahl. Es gibt heute eine ganze Reihe von Alternativen zum Leben im Heim. Eine davon ist meine Hausgemeinschaft. Man sucht sich eine Wahlfamilie, ein Netzwerk aus Menschen, die im besten Fall aus mehreren Generationen stammen. Wer alt ist, kann eine junge Familie entlasten, bei der die Großeltern vielleicht in einer anderen Stadt leben und im Alltag nicht helfen können. Jeder kann in einem solchen Netzwerk Aufgaben übernehmen. Wenn das gelingt, muss uns auch vor dem letzten, dem so genannten »vierten Alter« nicht Bange sein. Wer diese Hilfe organisiert? Ich erwarte diese Leistung nicht von der Politik. Sie muss von uns selbst kommen. Und sie entsteht nicht von heute auf morgen. Je früher man sich darum kümmert, desto größer sind die Chancen, dass dieses Netz uns auch trägt, wenn das Leben beschwerlicher wird.“*

Unschwer zu erkennen ist, dass es in diesem Artikel um den Problemkreis Leben und Wohnen im Alter geht. Henning Scherf und manche andere Menschen sehen eine Chance in einer Wohngemeinschaft im Alter. Sie haben recht darin, dass sich der Mensch auch im  Alter, wie während seines ganzen Lebens, als Mensch in einer sozialen Umgebung begreift. Wirklichkeit ist immer sozial bedingt, definiert oder konstruiert (vergleiche dazu die Abhandlung von Berger, Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit). Fiktion ist aber die immerwährende Beschwörung der Großfamilie, die unter einem Dach lebenden Mehrgenerationenhaushalte. Nach dem Mikrozensus 2005 lebten in Deutschland noch ein Prozent nach dem klassischen Familienbild zusammen: Ein Haus mit Eltern, Kindern, Opa und Oma sowie in seltenen Fällen auch Urgroßeltern!

So ist die Alten-WG ein mögliches Modell, das aber nur wenige verwirklichen können. Man muß deshalb endlich wieder die Wohnform positiv besetzen, die für viele alte Menschen die Wirklichkeit bildet: das Altenheim. Der Begriff „Heim“ bedeutet von der Herkunft nach der Ort, wo man sich niederlässt, er ist eng verwandt mit dem Begriff Heimat. Das Altenheim als Zentrum für Lebensgestaltung im Alter ermöglicht ein harmonisches Leben in einer definierten sozialen Welt, wo alle Möglichkeiten der Welt außerhalb(?) gegeben sind, wo sich immer wieder mehrere Generationen begegnen, wo man auch scheitern kann, wie im gewöhnlichen Alltag, wo man sich aber auch verwirklichen kann, wie im gewöhnlichen Leben. Der Gruppendruck in einer kleinen WG kann schlimmer sein als im Altenheim, der Mensch macht es, der seine Umgebung bewusst gestaltet oder Sorge dafür trifft, dass sie bewußt gestaltet wird und bleibt. Darin hat Henning Scherf recht, dass er auf den Begriff des Netzwerkes aufmerksam macht und auf jenes bewusste Schaffen der sozialen Welt. Der Soziologe Alfred Schütz hat dies in seiner wegweisenden Abhandlung: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt deutlich gemacht, wir erfahren uns als Mensch nur im Wir und in einem gemeinsamen Handeln. Die Bremer Stadtmusikanten legten das Stigma des gescheitert seins ab und schufen zusammen(!) eine neue Lebenswelt.


1982 war das Motto des Weltgesundheitsjahres: Nicht nur dem Leben Jahre geben, sondern den Jahren Leben. Für die heutige Ansicht einer Gerontologie ist es Aufgabe und Ziel, beginnend beim gesunden alten Menschen, über den leicht erkrankten zum schwerkranken und schließlich zum Pflegepatienten hin, die Tage und Jahre mit Leben zu füllen, immer situationsbezogen in den Möglichkeiten, die die Individualität bietet. Das kann sich im Altenheim genauso erfüllen wie in einer Wohngemeinschaft oder auch im Umfeld der Familie, in großen Wohneinheiten wie in kleinen Strukturen.

„Von nun an getrauten sich die Räuber nicht mehr in das Haus. Den vier Bremer Stadtmusikanten aber gefiel es darin so gut, dass sie nicht wieder hinauswollten.“



Literaturhinweise:
Peter Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit,1969
Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932
Dieter Kissel: Personale Geriatrie. Z.Allg.Med 61, 1175-1180 (1985)
*Henning Scherf: Wohnen im Alter. Tagebucheintrag: www.diegesellschafter.de 09.02.2009


Dr.med. Dr.phil. Dieter Kissel beschäftigt sich seit vielen Jahren als Arzt und Sozialwissenschaftler theoretisch und praktisch mit der „Altersfrage“. Er ist niedergelassener Arzt in Öschelbronn mit dem Tätigkeitsschwerpunkt Geriatrie und den Lesern durch mehrere Beiträge aus zurückliegenden Heften bekannt.